Filmen fürs Produzieren und fürs Tanzarchiv
Die Dokumentation des Probenprozesses von „Für die Kinder von gestern, heute und morgen – Ein Stück von Pina Bausch“ am Bayerischen Staatsballett
Von Severin Vogl

Ein Auszug aus der Ausgabe Tanznetz 04/2017
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Ich habe die Übergabe des Tanztheaterstücks „Für die Kinder von gestern, heute und morgen – Ein Stück von Pina Bausch“ an das Bayerische Staatsballett vom ersten Casting im Dezember 2014 bis hin zur Premiere im April 2016 filmisch begleitet. Zu Beginn war mir noch nicht bewusst, in welch einzigartigen Kosmos ich da eintauchen werde. Probenprozesse beim Bayerischen Staatsballett kannte ich bereits, aber bei dieser Übergabe war Vieles sehr besonders. Zum ersten Mal studierte eine andere Kompanie als das Tanztheater Wuppertal eines der jüngeren Stücke von Pina Bausch ein. Es war nicht klar, ob die Übergabe eines solchen Stückes funktioniert. Alle Beteiligten aus Wuppertal und München standen vor einer großen Herausforderung. Für die TänzerInnen vom Bayerischen Staatsballett eröffnete sich tänzerisch eine völlig neue Welt, in die sie eintauchen konnten. Die filmische Begleitung dieses Prozesses war für mich interessant, weil man das Wachsen der TänzerInnen an ihren Rollen und den Prozess der menschlichen Entwicklung beobachten konnte.

 

Bei einem der ersten Besuche einer Soloübergabe von Helena Pikon an zwei Tänzerinnen vom Bayerischen Staatsballett wurde mir im Ansatz klar, was alles Helenas Rolle umfasst. Es ist unmöglich, in wenigen Worten die Persönlichkeit und Tiefe dieser Rolle zu beschreiben. Die Stimmung bei der Übergabe war voller Erwartung und Freude, die eigene Rolle weitergeben zu können. Helena erklärte offen, klar und fein ihre Motivation und Beweggründe für jede einzelne Bewegung und die Bewegungsfolgen. Die Stimmung war hoch konzentriert und von einer großen Liebe zur Arbeit geprägt. Für mich waren die menschliche Basis und die Offenheit der Wuppertaler TänzerInnen gegenüber den Münchner TänzerInnen sehr faszinierend. Es war aber nicht nur Helena Pikon, die mich in ihrer Art die eigene Rolle zu übergeben, begeistert hat. Die zehn TänzerInnen aus Wuppertal, die ich filmisch begleitet habe, waren alle sehr umsichtig, einfühlsam und detailgetreu im Umgang mit der Übergabe ihrer eigene Rolle an die Münchner TänzerInnen. Zu den einzelnen Phasen der Übergabe fanden jeweils mit den TänzerInnen aus Wuppertal und aus München ausführliche Interviews statt, die ich filmisch mit zwei Kameras dokumentiert habe. Dr. Katja Schneider und Barbara Kaufmann, Leiterin der Dokumentation bei der Pina Bausch Foundation, haben dafür individuelle Interviewleitfäden entwickelt. Diese haben sehr geholfen, die Interviews sinnvoll zu strukturieren und jedem der TänzerInnen eigenen Raum für Erinnerung zu geben. Jede/r hat dieselben Fragen gestellt bekommen, aber sich ganz unterschiedlich erinnert. So gelang es, einen offenen und stimmigen Raum für die Erinnerung an die Zeit der Entwicklung des Stücks „Kinder“ zu schaffen. Gleichzeitig konnten wir so auch die Erinnerung an die jetzige Übergabe gut dokumentieren.

Der Probenraum, in dem die Rollen übergeben werden, ist sehr sensibel. Gerade weil es kein Rezept für eine gelingende Übergabe gibt. Alles war Neuland für die einzelnen Beteiligten. Die feine und besondere menschliche Qualität, mit der das Leitungsteam von Ruth Amarante in Zusammenarbeit mit Daphnis Kokkinos und Azusa Seyama diesen Prozess geleitet haben, war faszinierend. Eine Kamera kann hier sehr störend sein. Dessen waren wir uns auch bewusst. Es war von Anfang an klar, dass das Filmen den Probenprozess nicht stören darf. Dies ist fürs Filmen natürlich eine Herausforderung. Film braucht Nähe. Ich war mit der Kamera aber meist im Hintergrund und habe von dort aus den Prozess verfolgt. Die Aufgabe war dabei, die filigranen Prozesse und einzelnen Geschichten aufzuzeichnen. Proben und Tänzer verändern sich natürlich, wenn jemand mit einer Kamera mit im Raum ist. Bald war es aber auch ganz normaler Probenalltag, an den sich beide Seiten bald gewöhnt hatten. Vertrauen der TänzerInnen zu mir als Filmemacher war dabei eine sehr wichtige Basis. Mit wachsendem Vertrauen hat sich auch die Qualität und Intensität der Interviews der TänzerInnen verändert. Die Offenheit und Ehrlichkeit der Münchner TänzerInnen, die es nicht gewohnt waren, so intensiv in Interviews, ihre Veränderungen zu beschreiben, hat mich sehr berührt. Die TänzerInnen aus München sind an dieser großen Herausforderung über sich hinausgewachsen, das hat man wunderbar auf der Bühne sehen können. Es ist außerordentlich wichtig solche besonderen Prozesse für die Nachwelt zu dokumentieren, wenn dies irgendwie möglich ist. Solange das Wissen und die Erinnerung noch frisch sind, kann man ein sehr lebendiges Bild solcher Übergaben zeichnen. Es ist sehr schwierig, Tanz und die Motivation von und für den Tanz zu fassen, da der Tanz von der Aktualität und Vergänglichkeit lebt. Filmisch kann dies aber gut funktionieren. Wenn die Vermittlung der eigenen Rolle so gut funktioniert wie hier in München, ist es natürlich ein großes Geschenk. Die Übergabe in München ist aus Archivsicht ein sehr gutes Modell, wie man solche Prozesse dokumentieren kann. Die Pina Bausch Foundation plant daher eine Verwertung des Materials. Dieser besondere Zauber und die menschliche Qualität der Übergabe von „Kinder“ in München können danach hoffentlich noch weitere tanzbegeisterte Generationen motivieren und beflügeln.